Lachgassedierung
Unter dem Einfluss von Lachgas ist dir total egal, was währenddessen passiert – du bist nämlich in der Zeit von der Realität entkoppelt.
Du hast keinen Würgereiz mehr und die Spritze ist dir auch völlig egal. Trotzdem bist du bei vollem Bewusstein, bist ansprechbar und kannst deine eigenen Entscheidungen treffen – es ist zudem das einzige Beruhigungsmittel, das deine Fahrtauglichkeit und Geschäftsfähigkeit nicht einschränkt.
Es gibt ein Vorgespräch, in dem wir feststellen, ob du für eine Lachgasbehandlung geeignet bist.
In meiner Zahnarztpraxis am Ostufer von Kiel wirst du ganzheitlich behandelt und auch als Angstpatient bist du bei uns herzlich Willkommen!
Das Kind auf dem Behandlungsstuhl heißt Miriam, und ihre Schneidezähne sind in besorgniserregendem Zustand.
In ihrer rechten Hand hält sie einen rot glitzernden Zauberstab aus durchsichtigem Plexiglas, in dem Sternenflitter tanzt, gegen das Licht der Halogenlampe und kichert leise.
Ihre Nase wird bedeckt von einer orangefarbenen Gummimaske, die an ein kleines Organ erinnert und zart nach Pfirsich duftet. Aus dieser Maske fließt in regelmäßigem Strom eine Mischung aus Lachgas und Sauerstoff in mein Kind hinein.
Über Miriams Beine wurde liebevoll eine rostrote Kuscheldecke gebreitet, sie hört Musik durch ihre airPods und unsere Hündin Maggie liegt mit besorgtem Blick am Sockel des Behandlungsstuhls auf einem Kissen, das Juno, dem Therapudel der Praxis Bocksch, gehört. Miriam ist 15 und meine einzige Tochter.
Was Zahnbehandlungen betrifft, ist sie eine extreme Angstpatientin; zu oft hat sie als Kind mit und bei Kieferchirurgen Dinge erlebt, deren Schilderungen selbst einen gestandenen Hafenarbeiter schaudern lassen. Und so war es noch vor wenigen Wochen nicht möglich, Miriams kaputten Zähnen, (selbst unter Aufbietung aller Betäubungsspritzen) mit einem Bohrer nahezukommen.
Frau Bockschs ruhige, liebe- und rücksichtsvolle Art, das von der Mitarbeiterin gegebene Reiki, die Anwesenheit des Praxispudels mit den Bernsteinaugen und dem Namen einer römischen Herdgöttin: Nichts ging, nichts half mehr, so profund war ihre Furcht vor den Schmerzen. Jetzt herrscht im Raum eine heitere, konzentrierte Atmosphäre. Unsere Hündin Maggie liegt im Sonnenviereck vor der Terrassentür auf ihrem geborgten Kissen, eine Meise landet kurz auf dem Balkongeländer, und bis auf das schmurgelnde Geräusch des Saugers in Miriams Mund ist es still. Das Team um die Zahnärztin Jutta Bocksch arbeitet gelassen, eingespielt, hochkonzentriert und ist fühlbar im Flow. Lachgas ist eine Wundersubstanz. Anders als bei einer Narkose ist die Patientin wach, ansprechbar – und dabei völlig gechillt. Ihre Atemluft wird mit einem stetigen Strom an Lachgas vermischt, und das führt dazu, dass Miriam, die Angstpatientin, selbst sehr herausfordernde Passagen der zweistündigen Behandlung übersteht. Nur manchmal sehe ich, wie sie die rostrote Decke fester packt oder mit dem Daumen ihre Fingerspitzen antippt – doch all das ist kein Vergleich zu der verzweifelten Angst, die sie zuvor vor den zahnärztlichen Gerätschaften und ohne das Lachgas hatte. Als der Hauptteil der Behandlung abgeschlossen ist, dreht die junge Assistentin den Hahn der Lachgasflasche zu, und Miriam atmet durch die Maske köstlichen Sauerstoff, während der Stuhl sie wieder in Sitzposition schnurrt. Sie ist bleich wie ein Laken, und ihre von der Spritze noch betäubte Oberlippe zaubert ihr eine drollige Schnute. Doch sie hat es geschafft! Noch traut sie sich nicht zu lächeln; zu lange war sie daran gewöhnt, ihr Gebiss mittels der Oberlippe zu verbergen. Am folgenden Morgen kommt mir eine beinah Fremde entgegen: Ein gerade aufgerichtetes junges Mädchen, das mit Jutta Bockscks Hilfe etwas zuvor Undenkbares geschafft und sich einer schweren Last entledigt hat. Ich sage ihr, dass mein Herz vor Stolz auf sie gleich platzt, und da geschieht es: Miriam zeigt ihr schönes, ihr befreites Lächeln.